Morella (Poe)

Morella ist eine 1835 erschienene Erzählung von Edgar Allan Poe, in deren Mittelpunkt die Frage der Identität zweier unterschiedlicher Personen steht.

Handlung

Der namenlose Ich-Erzähler hat in Morella durch Zufall eine Freundin von höchster Gelehrsamkeit gefunden. Für sie glüht seine Seele mit einer Glut, die jedoch keine Liebe ist. Sie heiraten, Morella schließt sich ganz dem Erzähler an, der zu ihrem Schüler wird. Die deutschen Philosophen Fichte und Schelling stehen im Mittelpunkt von Morellas Studien, sie setzt sich mit der Frage der Identität auseinander. Im Laufe der Zeit verwandelt sich die anfängliche, wenn auch nur geistige Zu- in Abneigung. Der Ich-Erzähler beginnt, den Tod Morellas herbeizusehnen, und tatsächlich beginnt sie, in zunehmendem Maße zu verfallen, wobei die Symptome (die roten Wangenflecken) auf Tuberkulose schließen lassen. Als Morella ihren Tod herannahen spürt, eröffnet sie dem Erzähler: „ich sterbe. Doch in mir ist ein Unterpfand der Neigung - ach, welch geringer -, die du mir entgegenbrachtest. Und wenn mein Geist mich verlässt, wird das Kind leben, dein Kind und meines!“ Sterbend schenkt sie einer Tochter das Leben, die der Ich-Erzähler ungetauft aufwachsen lässt. Von Tag zu Tag wird sie Morella ähnlicher, und als die Zehnjährige schließlich getauft wird, drängt sich dem Ich-Erzähler nur ein Name für sie auf die Lippen: Morella. Kaum hört die Tochter den Namen ihrer Mutter, erwidert sie: „Hier bin ich!“ Sie überlebt diesen Moment nicht lange, und als der Ich-Erzähler sie in die Gruft trägt, findet er dort keine Spur vom Leichnam ihrer Mutter.

Deutung

Die Erzählung beschreibt das verstörende Wiedererstehen einer Identität in einer anderen, und zwar in einem Maße, das über die (genetisch bedingte) Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter hinausgeht: Die Mutter ist die Tochter. Warum Poe diese Geschichte nicht nur geschickt und effektsicher komponierte, warum er sie schreiben musste, ergibt sich wohl nur aus seiner Biographie. Während er sie schrieb, saß seine 10-jährige Cousine Virginia Clemm neben ihm und erschien ihm, dem früh Verwaisten, als Reinkarnation seiner früh verstorbenen Mutter, der Schauspielerin Elizabeth Poe, der ersten Morella, die er liebte mit einer Liebe, die geschlechtliche Liebe nicht sein durfte, weshalb sie sich in Hass verkehrt.

Wie die 'erste' Morella ohne geschlechtliche Liebe vom Ich-Erzähler schwanger geworden sein soll, ist ein Geheimnis, das dieser (und Poe) für sich behält. Freilich stützt dieser Haken des Plots wiederum die absolute Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter, denn die letztere wirkt wie durch Parthenogenese erzeugt, um nicht zu sagen: wie geklont.

In Morella spiegelt sich auf einer anderen Bedeutungsebene ebenso das philosophische Verhältnis Poes zum deutschen Idealismus. Der Ich-Erzähler betont ausdrücklich, dass die in Preßburg geborene Morella ihn mit den „mystischen Schriften“ der deutschen Philosophen vertraut gemacht hat, vor allem mit dem Pantheismus Fichtes und der Identitätslehre Schellings. Zunächst versucht der Erzähler jedoch, sich aus den „verworrenen Gefilde[n] ihrer Gedankenwelt“ zu lösen, kann indes nicht verhindern, dass „aus der Asche einer toten Philosophie einige düstere, tiefgründige Worte aufglimmen“, deren sonderbarer Sinn sich seinem Gedächtnis einbrennt. Er hat Morella nie geliebt; seine Entfremdung beginnt am ersten Tage ihrer Verbindung, die schließlich zum Tode Morellas führt – und genau diesen Tod hat der Erzähler herbeigesehnt. In Gestalt der gemeinsamen Tochter ersteht Morella nun in der Wahrnehmung und Imagination des Ich-Erzählers nach ihrem Tode unabwendbar wieder wie der Phoenix aus der Asche.[1]

Einzelnachweise

  1. Siehe Morella. In: Edgar Allan Poe: Meistererzählungen, hrsg. von Günter Blöcker, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin u. a. 1960, S. 93–100, hier S. 93–96. Siehe zu diesem Deutungsansatz auch die Hinweise bei Karl Heinz Göller: Poe · Ligeia. In: Karl Heinz Göller u. a. (Hrsg.): Die amerikanische Kurzgeschichte. August Bagel Verlag, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02212-3, S. 78f.
Wikisource: Morella – Quellen und Volltexte (englisch)
  • Englischer Originaltext
VD
Liste der Werke von Edgar Allan Poe
Gedichte

Tamerlane (1827) • Song (1827) • Dreams (1827) • Spirits of the Dead (1827) • Evening Star (1827) • Imitation (1827) • Stanzas (1827) • A Dream (1827) • The Happiest Day (1827) • The Lake (1827) • Sonnet—To Science (1829) • Al Aaraaf (1829) • Romance (1829) • To — — (1829) • To The River — (1829) • To M— (1829) • Fairy-Land (1829) • To Helen (1831) • Israfel (1831) • Die Schlafende (1831) • The Valley of Unrest (1831) • The City in the Sea (1831) • Enigma (1833) • Serenade (1833) • To — (Sleep On) (1833) • Fanny (1833) • The Coliseum (1833) • To One in Paradise (1834) • To Elizabeth (1835) • To Mary (1835) • Bridal Ballad (1837) • To Zante (1837) • The Haunted Palace (1839) • Sonnet — Silence (1840) • Der Erobererwurm (1843) • Lenore (1843) • Dream-Land (1844) • Eulalie (1845) • Der Rabe (1845) • Impromptu. To Kate Carol (1845) • To — (1845) • The Divine Right of Kings (1845) • Stanzas (1845) (1845) • A Valentine (1846) • To M. L. S— (1847) • Ulalume (1847) • To Marie Louise (1848) • An Enigma (1848) • The Bells (1849) • A Dream Within a Dream (1849) • For Annie (1849) • Eldorado (1849) • To my Mother (1849) • Annabel Lee (1849) • O, Tempora! O, Mores! (1868) • Alone (1875)

Gedichtbände

Tamerlane and Other Poems (1827) • Al Aaraaf, Tamerlane and Minor Poems (1829) • Poems (1831) • The Raven and Other Poems (1845)

Geschichten

Metzengerstein (1832)  • The Duc de L’Omelette (1832) • A Tale of Jerusalem (1832) • Loss of Breath (1832) • Bon-Bon (1832) • MS. Found in a Bottle (1833) • Die Verabredung (1834) • Berenice (1835) • Morella (1835) • Lionizing (1835) • The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaall (1835) • König Pest (1835) • Shadow – A Parable (1835) • Four Beasts in One – The Homo-Cameleopard (1836) • Mystification (1837) • Silence – A Fable (1837) • Ligeia (1838) • How to Write a Blackwood Article (1838) • A Predicament (1838) • The Devil in the Belfry (1839) • The Man That Was Used Up (1839) • Der Untergang des Hauses Usher (1839) • William Wilson (1839) • The Conversation of Eiros and Charmion (1839) • Why the Little Frenchman Wears His Hand in a Sling (1840) • The Business Man (1840) • Der Mann der Menge (1840) • Der Doppelmord in der Rue Morgue (1841) • A Descent into the Maelström (1841) • The Island of the Fay (1841) • The Colloquy of Monos and Una (1841) • Never Bet the Devil Your Head (1841) • Eleonora (1841) • Drei Sonntage in einer Woche (1841) • Das ovale Porträt (1842) • Die Maske des Roten Todes (1842) • The Landscape Garden (1842) • Das Geheimnis der Marie Rogêt (1842) • Die Grube und das Pendel (1842) • Das verräterische Herz (1843) • Der Goldkäfer (1843) • Der schwarze Kater (1843) • Diddling (1843) • The Spectacles (1844) • A Tale of the Ragged Mountains (1844) • The Premature Burial (1844) • Mesmerische Offenbarung (1844) • Die längliche Kiste (1844) • The Angel of the Odd (1844) • Thou Art the Man (1844) • The Literary Life of Thingum Bob, Esq. (1844) • Der entwendete Brief (1844) • The Thousand-and-Second Tale of Scheherazade (1845) • Some Words with a Mummy (1845) • The Power of Words (1845) • The Imp of the Perverse (1845) • The System of Doctor Tarr and Professor Fether (1845) • Die Tatsachen im Fall Waldemar (1845) • Die Sphinx (1846) • Das Fass Amontillado (1846) • The Domain of Arnheim (1847) • Mellonta Tauta (1849) • Hopp-Frosch (1849) • Von Kempelen and His Discovery (1849) • X-ing a Paragrab (1849) • Landor’s Cottage (1849)

Andere Werke

Maelzel’s Chess Player (1836) • The Daguerreotype (1840) • The Philosophy of Furniture (1840) • A Few Words on Secret Writing (1841) • The Rationale of Verse (1843) • Morning on the Wissahiccon (1844) • Old English Poetry (1845) • Die Philosophie der Komposition (1846) • Das poetische Prinzip (1846) • Heureka (1848) • The Balloon-Hoax (1844) • The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838) • Das Tagebuch des Julius Rodman (1840) • Politian (1835) • The Conchologist’s First Book (1839) • Der Leuchtturm (1849)